Die Macht der Scham: Verstehen, Bewältigen und Heilen anhand von Beispielen aus der Praxis

Scham, ein lebensbestimmendes Gefühl?

Scham ist ein komplexes menschliches Emotionserleben, das mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit, Peinlichkeit oder Schuld verbunden ist. Es tritt auf, wenn eine Person das Bewusstsein für ein vermeintliches Fehlverhalten, eine soziale Normverletzung oder eine wahrgenommene Unzulänglichkeit hat. Die Empfindung von Scham kann sowohl von internen Faktoren wie eigenen Standards und Werten, als auch von externen Faktoren, wie sozialen Erwartungen und Urteilen anderer, beeinflusst werden.

Scham ist uns angeboren und dient wie alle Gefühle dem menschlichen Überleben. Wie das „still face experiment“ von Dr. Edward Tronick zeigt, streben bereits Säuglinge nach Ansehen. Erfolgt keine positive Bestätigung der anderen Person, so wird automatisch Scham ausgelöst.

Scham kann mit körperlichen Reaktionen wie Erröten, gesenktem Blick, gesenkter Körperhaltung oder einem Gefühl der Versunkenheit einhergehen. Sie kann auch psychologische Auswirkungen haben, wie ein geringes Selbstwertgefühl, das Gefühl der Unzulänglichkeit oder die Vermeidung von bestimmten Situationen, um weitere Scham zu vermeiden.

Bei Menschen mit Demenz passieren solche Verletzungen, die dann oft als störende Verhalten bezeichnet werden. Häufig wird vor der erkrankten Person über sie gesprochen oder noch schlimmer, die Angehörigen werden bedauert, dass sie solches Leid zu tragen haben. Wenn sich in solchen Momenten die Betroffenen ganz in sich zurückziehen, weil sie am liebsten nicht vorhanden sein möchten, dann ist der Grund dafür in der Scham zu suchen.

Scham dient oft als soziale Kontrollfunktion, da sie uns daran erinnert, soziale Normen und Erwartungen zu beachten.

Bei oben genanntem Beispiel kann die erkrankte Person diese Erwartungshaltung aufgrund der Demenz nicht erfüllen und es wird automatisch die Botschaft „ich bin nicht ok, so wie ich bin“ ausgelöst. Man spricht auch von sozialer Scham, d.h. man wird von anderen Personen negativ bewertet oder abgelehnt.

Scham und Schuld

Es ist wichtig anzumerken, dass Scham von Schuld zu unterscheiden ist. Scham bezieht sich oft auf das Gefühl, dass man als Person unzulänglich oder fehlerhaft ist, während Schuld sich auf ein spezifisches Verhalten bezieht, bei dem man das Gefühl hat, gegenüber anderen oder gegenüber eigenen moralischen Standards versagt zu haben.

Da wir keine eigene Scham-Sprache zur Verfügung haben, suchen wir Begründungen, um aus der Situation herauszukommen. Eine Variante davon ist, sich schuldig bzw. unzulänglich zu fühlen. Aber auch Schuldzuweisungen sind eine beliebte Abwehrreaktion. Bei Menschen mit Demenz hören wir dann oft „du hast mich bestohlen“ als Antwort auf die Verletzung der Würde dieser Person.

In der Scham geht man aus der Kommunikation. „Lasst mich alle in Ruhe“ wäre eine typische Reaktion. In solchen Situationen braucht es viel Geduld und Feingefühl, um die Menschen (mit Demenz) aus ihrer inneren Emigration zu holen und ihnen das Gefühl des Angenommenseins zu vermitteln.

Scham und Perfektionismus

Eine andere Maske, um die Scham von sich zu abzuwenden, ist der Perfektionismus. Pflegende und begleitende Angehörige holen sich unbewusst aus diesem Grund sehr lange keine Hilfe von außen, weil sie sich einreden alles gut selbst zu schaffen. Dahinter steckt eine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung der Leistung, die von der erkrankten Person kaum gewürdigt wird.

Aber auch Menschen mit beginnender Demenz sagen oft „ich kann noch alles selbst, ich brauche niemanden“. Damit wollen sie sich selbst die Anerkennung geben. „so bin ich bzw. so darf ich leben“. Diese Form der leistungsbezogenen Scham entsteht immer dann, wenn man das Gefühl hat, in Bezug auf eigene Fähigkeiten versagt zu haben.

Scham und Aggression

Aggression kann ebenfalls die Antwort sein. Denn in der Scham bin ich nicht handlungsfähig und das ist anstrengend. Und es ist besser Täter als Opfer zu sein, denn „ich bin kein Versager, früher war ich eine namhafte Persönlichkeit“. In der Wut kann ich agieren und so werden oft arge Beschimpfungen oder lautes Schreien von Menschen mit Demenz als Befreiung von Scham eingesetzt.

Scham und Krankheit

Psychische Auswirkungen: Scham kann zu verschiedenen psychischen Problemen und Störungen beitragen oder diese verstärken. Menschen, die regelmäßig Scham empfinden, können ein geringes Selbstwertgefühl, Angstzustände, Depressionen oder soziale Phobien entwickeln. Scham kann das Selbstvertrauen und die Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Interaktion beeinträchtigen, was wiederum das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen kann.

Physische Auswirkungen: Scham kann auch körperliche Auswirkungen haben. Chronischer oder intensiver Schamstress kann das Immunsystem schwächen und den Körper anfälliger für Krankheiten machen. Scham kann zu einem erhöhten Stressniveau führen, das mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen verbunden ist, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Probleme, Schlafstörungen und ein geschwächtes Immunsystem. Darüber hinaus können Menschen, die sich schämen, häufiger ungesunde Verhaltensweisen wie übermäßiges Essen, Alkoholmissbrauch oder Drogenkonsum aufweisen, was ebenfalls zu gesundheitlichen Problemen führen kann.

Wenn einer Person viele tiefe Verletzungen zugefügt werden, dann kann sich daraus ein Sucht-Profil entwickeln. Darüber kann nur sehr schwer gesprochen werden. Solche Menschen haben oft das Gefühl, dass sie nichts mehr in diesem Leben hält und dies führt im Extremfall zur Todes-Sehn-Sucht. „Ich will sterben“ hören wir dann oft auch von Menschen mit Demenz.

Die Bewältigung von Scham, der Aufbau von Selbstmitgefühl und die Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden psychischen Belastungen können dazu beitragen, sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit zu verbessern. So kann es Menschen (mit Demenz) im ersten Schritt schon helfen, wenn sie darüber sprechen können. Dies setzt großes Vertrauen zu Begleitpersonen voraus. Bei anhaltenden Schamgefühlen oder deren Auswirkungen auf die Gesundheit ist es ratsam, professionelle Unterstützung durch einen Therapeuten oder Arzt in Anspruch zu nehmen.

 

Fremdschämen und Mitschämen (bei Demenz)

Scham wird verstärkt durch die Anzahl der Augenpaare, d.h. je mehr Personen einen Menschen (mit Demenz) in seinem „asozialen“ Tun beobachten, desto schlimmer für die betroffene Person. Um solche Situationen möglichst zu vermeiden, verweigern Betroffene oft soziale Kontakte in Gruppen.

Davon zu unterscheiden sind:

  • Fremdschämen bezieht sich auf das Empfinden von Scham oder Peinlichkeit für das Verhalten oder die Handlungen einer anderen Person. Man fühlt sich unangenehm berührt oder gedemütigt, weil man die Situation aus der Perspektive der betroffenen Person betrachtet und ihre soziale Unbeholfenheit, Peinlichkeit oder Fehler wahrnimmt. Fremdschämen kann auftreten, wenn man Zeuge von unangemessenem Verhalten, unbeholfenen Auftritten oder peinlichen Situationen ist.
  • Mitschämen: Mitschämen bezieht sich auf das gemeinsame Erleben von Schamgefühlen mit anderen Menschen, meistens in einer Gruppe oder Gemeinschaft. Es entsteht, wenn man sich mit anderen Menschen identifiziert und empathisch mit ihnen fühlt, wenn sie Scham empfinden. Man teilt das Schamgefühl und fühlt sich emotional verbunden. Mitschämen kann auftreten, wenn man in einer Gruppe ist, in der jemand schambehaftet ist, und man sich solidarisch oder einfühlsam mit der betroffenen Person fühlt.

In beiden Fällen spielt Empathie eine Rolle, jedoch gibt es einen Unterschied in der Richtung der Scham. Beim Fremdschämen empfindet man Scham für das Verhalten einer anderen Person, während beim Mitschämen man sich mit anderen Menschen verbunden fühlt und ihre Schamgefühle teilt.

Es ist durchaus möglich, dass man als Angehöriger einer Person mit Demenz Fremdscham empfindet. Dies kann auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sein:

  1. Verhaltensänderungen: Demenz kann zu Verhaltensänderungen führen, die für Außenstehende ungewöhnlich oder peinlich erscheinen können. Dies können beispielsweise unangemessene Kommentare, soziale Unbeholfenheit oder impulsives Verhalten sein. Als Angehöriger kann man sich in solchen Momenten unangenehm berührt oder peinlich berührt fühlen.
  2. Stigma und Missverständnisse: Demenz wird in der Gesellschaft oft noch stigmatisiert, und es gibt viele Missverständnisse und Vorurteile darüber. Als Angehöriger kannst du dich von diesen Vorurteilen beeinflusst fühlen und befürchten, dass andere Menschen die Demenz deines Angehörigen negativ bewerten oder verurteilen könnten.
  3. Sorge um das Wohlbefinden des Angehörigen: Als Angehöriger möchtest du möglicherweise das Wohlergehen und die Würde deines demenzerkrankten Angehörigen schützen. Wenn du Situationen erlebst, in denen dein Angehöriger aufgrund seiner Demenz Schwierigkeiten hat oder peinliche Situationen entstehen, kann dies zu Fremdscham führen, da du möglicherweise das Bedürfnis hast, ihn zu schützen oder zu verteidigen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Fremdscham in solchen Situationen eine normale Reaktion sein kann. Es ist jedoch auch wichtig, sich bewusst zu machen, dass Demenz eine komplexe Erkrankung ist und dass die betroffene Person nicht bewusst oder absichtlich peinliche Situationen verursacht. Es kann hilfreich sein, sich über Demenz und ihre Auswirkungen zu informieren, Unterstützung durch Beratung oder Selbsthilfegruppen zu suchen und mit anderen Angehörigen in ähnlichen Situationen zu sprechen. Eine offene Kommunikation und das Teilen von Erfahrungen können dazu beitragen, mit Fremdscham umzugehen und Unterstützung zu finden.